Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Dezember 2003
Hirnhälfte des Lebens: Ein Film über Hölderlin als Leidenschaft
Hirnforschung ist die Dichtung nicht erst, seit Gottfried Benn zur Stärkung des poetischen Zentralorgans Alkaloide empfahl und von Milch abriet. Lange bevor die Deterministen das Gehirn zur neuen Gottheit erklärten, die lediglich Neuronen feuert, anstatt Blitze zu schleudern, rühmten die Griechen den göttlichen Wahnsinn der Sänger. "Dr Hölderlin isch ned verrugd gwä" - diese in Sütterlinschrift am Tübinger Hölderlinturm angebrachte Ehrenrettung verkennt jenes Rauschen in Hölderlins Lyrik, das ohne die Einschaltung gefährlicher Hirnströme schwer zu empfangen ist.
 
In Harald Bergmanns Dokumentation "Passion Hölderlin", nun im Kölner Filmhaus erstmals gezeigt (...), setzt der Hölderlinforscher Detlef B. Linke ein Plastikhirn zusammen wie einen Rubik's Cube. Bildet die "daumendicke Zyste", die auf den Hirnbalken des Poeten drückte, etwa das fehlende Stück im Puzzle seines rätselhaften Spätwerks? Liefert die Flüssigkeitsansammlung im Stammhirn gar den Indizienbeweis dafür, daß Hölderlin wirklich "von Apoll geschlagen" wurde, wie er nach seiner Südfrankreichreise schrieb? Führte folglich Hölderlins Hirn die Feder auf jenen mit Zeichen übersäten Manuskripten, deren "Buchstabenzauber" der Herausgeber Dietrich Sattler im Film mit magischem Lesefinger nachzeichnet? Linke scheint, wenn er die aus den Tiefen des limbischen Systems aufsteigenden Informationen mit dem Schicksal gleichsetzt, den Determinismus der antiken Tragödie zu beschwören - immerhin spielt die Szene am Rande eines Amphitheaters in Griechenland. Allerdings erklärt Linke Hölderlins Dichtung nicht als Effekt elektromagnetischer Impulse, sondern eher als Kampf mit dem verzehrenden Neuronenfeuer - vergleichbar dem Ringen mit den Göttern, das Hölderlin immer wieder aufruft. Auch der Philosoph Heinz Wismann bestückt keineswegs die lyrische Hausapotheke, wenn er Hölderlin als Meskalin für die Moderne anpreist. Als rauscherprobter Anthropologe erinnert Wismann bloß an die schamanischen Ursprünge des leitmotivischen Adlerflugs.
 
Der Filmemacher Harald Bergmann, der im vergangenen Jahrzehnt bereits eine Trilogie über Hölderlins Leben und Werk drehte, findet in "Passion Hölderlin" eine überzeugende Bildsprache für diese Sprachbilder: ein atemberaubender Segelflug im Voralpenland, später der halsbrecherische Tiefflug durch die Abgründe eines Videospiels - und schließlich historischer Absturz aller Höhenflüge, der weihevolle Einsatz des Gedichts "Der Tod fürs Vaterland" im Film "Stukas" von 1941. Die ganze Spannweite von Hölderlins Lyrik liegt zwischen dieser erregten Rezitation und jener Brüchigkeit, welche den zerdehnten Vortrag des Schauspielers Walter Schmidinger kennzeichnet. Bergmann hat mit seinem Film über fünf passionierte Hölderlinianer, produziert vom ZDF in Zusammenarbeit mit ARTE, einen ungewöhnlich offenen Zugang zum schwierigen Feld der Lyrik gefunden. Daß ARTE den Film, ursprünglich als zweiter Beitrag in einem Hölderlinabend am 30. Januar 2004 vorgesehen, nun ohne Angabe von Gründen aus dem Programm warf und den Rest des Abends - den Defa-Streifen "Hälfte des Lebens" (1984) und Bergmanns Spielfilm "Scardanelli" (2000) ins Spätprogramm verschob, ist bedauerlich. Für den nüchternen Wahnsinn der Lyrik öffnen sich die Pforten der Wahrnehmung, zu denen immerhin auch das Fernsehen gehört, selten genug.
 
Andreas Rosenfelder