Neue Zürcher Zeitung, 18. Oktober 2000
Verschlossene Welt
Endlich ein guter Hölderlin-Film
Schwarzweiss I. Da steht eine grob gemalte Landschaftskulisse, und zwei Männer gehen vor ihr auf und ab. Jung ist der eine von ihnen, der andere im Alter nicht zu schätzen, weil er eine Maske trägt, tendenziell kopfförmig, doch verlieren sjch die Konturen von Augen und Mund, Nase und Ohren unter ihrer grob genarbten Oberfläche. Die Männer weisen sich wechselseitig auf Einzelheiten des vermeintlichen Ausblicks hin, sprechen wohl auch, aber das ist nicht zu hören. Die Szene ist stumm.
 
Farbe. Da sitzt eine alte Dame, um die siebzig augenscheinlich, mit keralogiegestärktem weissem Haar und einer Schmuckkette über ihrem rosa Pullover. Sie spricht: spricht über einen Toten wie ein anderer Zeuge auch, der am Verandatisch in dessen nachgelassenen Papieren blättert und erklärt: "Meist unlesbares, äusserst mattes Zeug."
 
Schwarzweiss II. Eine Bleistiftskizze entsteht ruckweise unter den Worten: "...Ein heiteres Leben seh' ich in den Gestalten mich umblühen der Schöpfung, weil ich es nicht unbillig vergleiche den einsamen Tauben auf dem Kirchhof. Das Lachen aber scheint mich zu grämen der Menschen, nemlich ich hab' ein Herz. Möcht' ich ein Komet sein? Ich glaube. Denn sie haben die Schnelligkeit der Vögel; sie blühen am Feuer..."
 
Diese Szenen stammen aus einem Hölderlin-Film von Harald Bergmann, der sich mit den 36 Jahren des Dichters befasst, die er als entmündigter und psychisch kranker Mann in Tübingen verbrachte, in "Kost und Aufsicht" gestellt bei der Handwerkerfamilie Zimmer. Der Film heißt "Scardanelli" nach dem Wahlnamen, mit dem der alte Hölderlin seine Gedichte unterzeichnet hat, und er scheint sich in seinem 112-minütigen Verlauf vor allem mit der Frage zu beschäftigen, wie ein Film, ein illusionistischer Film, über diese legenden- und mythenverstellte Zeit vermieden werden kann.
 
Niemand kann ein Bild widerrufen. Ein gequältes Gesicht ist ein gequältes Gesicht. Die Verneigung vor einem Pudel ist unwiderruflich die Verneigung vor einem Pudel. Ob gewünscht oder nicht, die Bilder setzen sich als Repräsentanten einer Wirklichkeit, von der im Falle Hölderlins nur eines mit Eindeutigkeit zu behaupten ist: Sie ist nicht eindeutig. Was sonst Verstehen möglich werden lässt: die vergleichbare innere Erfahrungsweise zweier Menschen, ist bei ihm nicht mehr vorauszusetzen. Scardanelli (oder wie er sich sonst nennen liess) lebte als ein psychisch Abgesonderter, und jedes Bild von diesem Menschen könnte Erkennbarkeit nur vortäuschen.
 
Bergmann begegnet diesem Problem durch eine versetzte Erzählweise. Schwarzweiss sind jene Szenen gedreht, in denen Hölderlin-Scardanelli auftritt; aber es handelt sich um ein Schwarzweiss, dessen extreme Lichtkontraste die Figuren beinahe ins Schemenhafte entrücken. Nur in der Nahaufnahme werden Details kenntlich, so dass ein Grossteil der schauspielerischen Arbeit auf die Mimik entfällt. Und genau hier entsteht dem Film emeut ein Problem: Der Hölderlin-Darsteller André Wilms ist gut, brillant, zu gut. Wer Wilms auf einer Wiese Pusteblumen einsammeln sieht, wer zuschaut, wie er sich widerwillig von Lotte Zimmer die Fingernägel schneiden lässt, ist schon der Illusion erlegen, einen authentischen Scardanelli vor sich zu haben. Und diese lllusion ist zu stören. Zunehmend tritt Hölderlin nun in der Maske auf, rezitiert aus dem "Hyperion" und zeigt dann, zu sehen sind die Hände unter einem narbigen Überzeug und das Buch, auf eine Stelle: "Sehen Sie, gnädiger Herr, ein Komma!"
 
In fingierten Interviewsituationen berichten Zeitzeugen, unter anderem Christoph Theodor Schwab, Wilhelm Waiblinger und Lotte Zimmer, über ihre lang zurückliegende Begegnung mit Hölderlin.
 
Sie sprechen von seiner Gewohnheit, Besucher mit "Eure Majestät" und "Eure Heiligkeit" anzureden, davon, wie er Blumen pflückte, zerriss und in die Tasche steckte, von seinem Klavierspiel. Doch ein fatales Vertrautsein zerstört jede historistische Illusion: Die sprechenden Personen sind Schauspieler aus dem Württembergischen, und sie sitzen unkostümiert in ihren privaten Wohnzimmern, an Tischen, in Sesseln, unter Stehlampen des 20. Jahrhunderts. Die filmische Phantasie simuliert keinen Erkenntnisvorsprung vor der Überlieferung. Sie hält sich, mit den Mitteln der Verfremdung, an die Zeugnisse.
 
Die Art und Weise, wie Bergmann die ästhetisch und sittlich gebotene Distanz zur verschlossenen Lebenswelt des alten Hölderlin bewahrt und dennoch zu einer überzeugenden Bildsprache gelangt, lässt über kleinere Ärgernisse hinwegsehen. Es gehört sicher zur cineastischen Freiheit, wenn er verschiedene Zeugenaussagen in eine zusammenfasst: wenn dann aber berichtet wird, wie Hölderlin mit einem Schnupftuch auf Zaunpfähle eingeschlagen habe, und André Wilms in der nächsten Szene eben dies und nichts anderes tut, dann ist das, als eine blosse Verdoppelung des Gesagten, platterdings redundant. Doch solche Nachlässigkriten sind selten. Schwerer wiegt schon, dass der Regisseur die Gedichte mit Stücken von Bach, Mozart und Schubert unterlegt hat. Das ist zwar dramaturgisch gerechtfertigt, misslingt aber zu oft. Gerade "ln lieblicher Bläue" wird durch die Musik nicht ausgedeutet, sondern aufgehübscht.
 
Doch abgesehen von solchen Vorbehalten (zu erwähnen wäre noch der irreführende Prolog): endlich ein diskutabler, faktisch und ästhetisch gerechtfertiger Hölderlin-Film. Voilà.
 
Gregor Wittkop