Reutlinger General-Anzeiger, 23. Oktober 2000
Hölderlin: Devot und zerbrechlich
Die Kulisse konnte für die Uraufführung des Hölderlin-Films "Scardanelli" nicht besser gewählt sein: direkt neben der Riesenleinwand der angestrahlte Hölderlin-Turm und dahinter die malerische Tübinger Neckarfront. Man fühlte sich in jene Zeit zurückversetzt, in welcher der Dichter lebte. Hölderlin, der sich selbst immer wieder neue Namen, eben auch Scardanelli, gab, hätte sich nur etwas aus dem Fenster beugen müssen, und er hätte sich den Film von Harald Bergmann auch anschauen können. Wird der Film dem Leben des großen Dichters gerecht?
 
Vom künstlerischen Aspekt her: sicherlich. Vom Unterhaltungswert: weniger. Bergmann hat aus "Scardanelli" einen Semi-Dokumentarfilm gemacht, wie er in letzter Zeit im Fernsehen häufiger zu sehen war. Eine historische Figur wird in den Mittelpunkt der Handlung gestellt, ihr Leben wird so realistisch wie möglich, aber eben doch in weiten Teilen fiktiv dargestellt. Dazwischen werden Zeitzeugen eingestreut, die den Menschen genauer beschreiben. So geht auch Bergmann vor, allerdings mit einem Unterschied. Die Zeitzeugen, die Tischlerfamilie Zimmer, der Freund Wilhelm Waiblinger oder Christoph Schwab, können nicht echt sein, deshalb werden sie von schwäbischen Schauspielern verkörpert. Sie beschreiben, inzwischen gealtert, wie sie Hölderlin erlebt haben. Im Hintergrund steht aber nicht eine historische Kulisse, sondern die Jetztzeit, in Farbe. Ihr Text allerdings ist echt, kein Satz in diesen Szenen ist erfunden, die Worte beruhen auf überlieferten Berichten.
 
Die gespielten Hölderlin-Szenen sind im Gegensatz zu den bunten Zeitzeugen-Sequenzen meist in Schwarzweiß gehalten, in einem Ton, der alten Stummfilmen gleicht. Allerdings ist Hölderlin im Film (gespielt von André Wilms) ganz und gar nicht stumm. Er spricht kurze, unterwürfige, manchmal auch undeutliche Sätze, der wirre Dichter eben, der ganz in sich zurückgezogen lebt und nur gelegentlich einen kurzen Einblick in seine Seele erlaubt, vor allem wenn er seine wundervollen Gedichte schreibt. Einige der Gedichte werden auch in dem Film rezitiert.
 
Diesen Part hat Schauspieler Walter Schmidinger, der in Tübingen gerade "Hamlet" für das Zimmertheater inszeniert, übernommen, der die zarten Gedichtzeilen genauso zerbrechlich wie getragen spricht. So könnte man sich durchaus auch die Stimme Hölderlins vorstellen. Als Hintergrund dienen meist schwarz-weiße Naturzeichnungen, die mit den Hölderlin-Worten Strich für Strich entstehen.
 
Sehr effektvoll setzt Regisseur Bergmann diese Technik auch an anderer Stelle ein. Er lässt ein Gedicht in der Handschrift Hölderlins entstehen, Buchstabe für Buchstabe, so als schriebe der Dichter gerade diese Zeilen. Nicht ganz deutlich wird in dem Film, warum Bergmann Hölderlin manchmal mit Maske und manchmal ohne auftreten lässt. Ebenso macht der Regisseur es dem Zuschauer etwas schwer, indem er, wenn die Zeitzeugen erscheinen, keine Namen einblendet. Ein Bruch im Film ist auch der gewollt penetrante schwäbische Zungenschlag der Zeitzeugen, deren Auftritte im krassen Gegensatz (mitunter sogar etwas störend) zu den kunstvollen schwarz-weißen Hölderlin-Szenen stehen. An einigen Stellen kippt der Film ins Pathetische. Wenn immer wieder neue Zeichnungen zu den Hölderlin-Gedichten entstehen, und klassische Hintergrundmusik das Leinwand-Bild feierlich überhöht, scheint der Regisseur sich ein wenig zu sehr in diese Technik verliebt zu haben. Dann entstehen Längen, die nicht nötig wären.
 
André Wilms spielt den Hölderlin dezent devot. Sehr vorsichtig nähert er sich der Figur des Dichters. Er ist der wirre Meister, etwas geheimnisvoll, weil so undurchdringlich, dem heute immer noch so viele Menschen nachspüren, wie eben jetzt auch Bergmann. Ins Kino transferiert verliert der Film sicherlich einiges an seiner magischen Ausstrahlung, die er kräftig aus der einmaligen Premieren-Umgebung saugte. "Scardanelli" ist ein sehenswertes Kunstprodukt, ein Kassenschlager wird der Film sicher nicht.
 
vit