Schwäbisches Tagblatt Tübingen, 23. Oktober 2000
Ein Dichter, nicht ganz von dieser Welt
Der fotogene Turm nahe dem Stift und der Burse ist Schluss- und Fluchtpunkt zugleich: Hier schließt sich, über immerhin 36 Jahre, Friedrich Hölderlins magisches Tübingen-Dreieck. Diese letzte Wohnstätte des Dichters hat schon des Öfteren als Kulisse für künstlerische Annäherungen herhalten müssen. 1986 schwamm zum ersten Tübinger Sommertheater die riesige Hölderlin-Totenmaske den Acheron herab. Sieben Jahre später stand dort, zum zweiten "Hölderlin"-Sommer des Melchinger Lindenhofs, nicht minder eindrucksvoll ein brennendes Sofa im trägen Neckar. Das tourismusgängige Tübingen-Motiv schien danach fast ein wenig abgenutzt im Zusammenhang mit dem geistig entrückten Turmbewohner.
 
Umso erstaunlicher, wie der genius loci mit dem Kinoprojekt des 37-jährigen Berliners Harald Bergmann für drei Vorstellungen kurzzeitig wiederbelebt erscheinen durfte. Bergmann stellte die Zuschauertribüne vis à vis auf die Neckarinsel. Mürbe gewordenes Platanenlaub rieselte duchs Bild, das sich im trennenden Gewässer kopfüber und verschwommen spiegelte. Mitunter stand die Leinwand als frappierender Doppelgänger-Einschnitt in der malerischen Neckarfront-Kulisse, wenn etwa erleuchtete Fenster im Film mit der sie umgebenden Wirklichkeit wetteiferten. Das 19. Jahrhundert, transportiert in die Gegenwart. Der Turm und seine Nachbarschaft waren dabei weit mehr als nur Staffage. Bergmann zeichnet ein sehr innerliches, vorsichtig tastendes Porträt des späten Hölderlin, der sich lieber Scardanelli nennen wollte. Es steht im steten Wechselspiel von Schwarzweiß-Szenen und farbigen Kommentaren damaliger Zeitgenossen von Schwab bis Lotte Zimmer, die allesamt sehr heutig von schwäbelnden Damen und Herrschaften in ihren Wohnzimmern memoriert werden. Nachempfunden einer immer beliebter werdenden Dokufiktion, die diesmal sogar trägt.
 
Hölderlin gewinnt Kontur, dem Naturfreund und Robert-Walser-Wanderer aus dem Bleistiftgebiet entstehen trickzeichnerisch schraffierte eigene Welten zu hehren Gedichts-Zeilen, die im Off Walter Schmidinger mit brüchig zittrigem Pathos deklamiert. Der Schauspieler André Wilms wiederum gibt Hölderlin sein wirres Artaud-Gesicht und eine scheue, geschäftige Verschlossenheit. Er ist nicht mehr von dieser Welt. Und so mutiert Hölderlin im Laufe des Films zu einer Art Ungeheuer vom Amazonas, mit Monsterkopf und faltigen Reptilien-Händen. Ein Verfremdungs-Effekt, der nicht ganz überzeugt. Hölderlin im Turm: Da sitzt er und dichtet, falls gewünscht, auch auf Bestellung. In "Scardanelli", dem Film, etwa über die Freundschaft; in "Scardanelli", dem Hörspiel (von Stephan Hermlin), etwas über den Zeitgeist. Während Hermlins Radio-Reflexion nur Stimmen sammelte, schickt Bergmanns Film sie sinnvoll ins Zweigespräch mit den Bildern. Sichtbar wird ein Mensch. Der manchmal verrückt, manchmal nur narret erscheint; und das letzte Geheimnis doch nicht preis gibt. Etwas verwegen allerdings Bergmanns Ausgangs-These, dass der Bibliothekarius als Wandersmann eins über den Schädel bekam und deshalb seither verwirrt war.
 
Der Zweistundenfilm "Scardanelli" ist bereits Bergmanns dritte Auseinandersetzung mit dem Dichter, nach "Hölderlin Comics" (über die erste Lebenshälfte) und "Das untergehende Vaterland" (über Hölderlins Vereinnahmung durch die Nazis). Nina Grosses Hölderlin-Schmonzette "Feuerreiter" schlägt er um Längen. Auch als gesellschaftliches Ereignis. Die abendliche Freiluftveranstaltung war garniert mit heimischer Küche von Maultaschen bis Schupfnudeln; dazu gab´s Rotwein aus örtlichem Anbau mit Hölderlin-Etikett auf der Flasche.
 
Wilhelm Triebold